Heute mal wieder ein Text über Rio. Ich hoffe, dass er gefällt, besonders der Dialog war eine Herausforderung, da ich mich nicht wiederholen wollte, aber auch die Übersicht wahren wollte. Naja, egal. Viel Spaß beim Lesen.
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„Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe“
Erich Fried
Der Schirm hat gute Dienste geleistet, denn wie immer sind nur die Schuhe von Rio nass und die Enden der Hosenbeine. Jetzt kurz vor dem Cafe schließt er den Regensschirm, um dann schnell die Tür zu öffnen und ins Warme zu treten. Heute ist es voll hier, bemerkt Rio beim ersten Blick auf die kleine Schlange vor dem Bestellabfertigungstisch. Bevor Rio an der Reihe ist, bemerkt er die Auslage mit den Zeitschriften. „Lesezirkel“ steht auf jeder drauf und er muss lächeln, weil ihm der Gedanke an eine Arztpraxis aufkommt, in der die Zeitschriften auch immer in dieser Art ummantelt sind. Zugleich muss er an den Anblick denken, als er mal ein Auto voll mit diesen Zeitschriften gesehen hat. Davor dachte Rio immer, dass es solche Auslieferungen dieser Zeitschriften nicht gibt, sondern dass einfach, wenn eine Arztpraxis eröffnet wird, der Arzt zur Einweihung von diesem ominösen „Lesezirkel“ ein paar Blätter geschenkt bekommt und die dann so lange im Warteraum liegen, bis die Praxis endgültig geschlossen wird oder die Blättchen geklaut werden. Wahnsinn, wie sich die Illusion beim Blick in diesen Wagen auflöste. Oder werden heute nur wieder ganze viele Praxen eröffnet, fragt sich Rio, und warum liegen hier welche? Sind die Mitarbeiter dazu verpflichtet die Dinger aus Praxen zu klauen oder hat der Besitzer die auch zur Einweihung bekommen, weil er sich mit einem weißen Kittel verkleidet hat? “Was darf’s denn sein?“, fragt eine nette Stimme und holt Rio aus seinen ermunternden Gedanken zurück in eine Situation, die er kaum mag, nämlich sich entscheiden zu müssen. Deswegen hat er es sich irgendwann einfach gemacht und sagt fast automatisch, wenn auch mit ein bisschen Verzögerung: „Cappuccino Grande“. Egal ob andere Sachen besser schmecken oder nur die Abwechslung den Geschmack belebt, Rio hat sich für Cappu vor Jahren entschieden und nimmt den deshalb immer. „So ist das einfacher“, hat er mal diesen Tick einem Freund erklärt. „Genauso wie mit Bier. Man muss nur immer ein Pils bestellen, das reicht doch. Es nervt doch, wenn jemand stotternd vor einem steht und nicht weiß, was er nehmen soll.“ Rio hat mal gekellnert und kennt daher unentschiedene Kunden und gerade waren auch schon zwei vor ihm dran, die lange gebraucht haben und jetzt will er die Schlange mal beschleunigen. Außerdem lächelt die Kellnerin nett, das macht die Sache entspannter. Besonders mag Rio dieses Cafe, weil er hier nicht lange auf den Cappuccino warten muss und er schmeckt. Also nicht außergewöhnlich, aber gut.
Mit der großen Tasse setzt er sich an einen Vierertisch, was er eigentlich ungern macht, denn wenn jetzt eine Vierergruppe reinkommt, dann hat man denen als einzelne Person den Platz weggenommen, aber es ist auch nichts anderes frei. Damit muss er nun leben. Er stellt die Tasse ab und geht noch mal zurück zur Auslage, um sich fast willkürlich eine Zeitschrift zu nehmen. Er hat auch eine eigene Zeitschrift dabei, aber wenn er schon die Chance hat, was anderes zu lesen, was er jetzt nicht mit rum trägt, dann sollte man die auch nutzen. Eine nächste Busfahrt kommt bestimmt. Oder auch ein Cafe ohne Zeitschriften.
„Rio“, ruft jemand, ein sanfte Stimme, und endlich sieht Rio auch die schöne Sandra. Wegen ihr ist er auch eigentlich hier, aber wegen der ganzen Aufregung durch die vielen Kunden hat er sie noch nicht registriert, wie sie gerade ein paar gebrauchte Gläser und Tassen von Tischen räumt. Die Gäste an den Tischen sind ihr dankbar, da die meisten Gläser von den Vorgängern sind, und man doch selber die Tische mit seinen leeren Gläsern voll stellen will. Er freut sich, sie zu sehen, und lächelt sie an, obwohl er ein bisschen peinlich berührt ist, da nicht nur ihre braunen Augen in seine Richtung schauen, sondern auch andere, die den Ausruf mitbekommen haben und nun schauen wollen, wer hier wen gerufen hat. „Ich komme gleich zu dir“, sagt sie leise, als sie mit einem Tablett alter Gläser an ihm vorbeigeht. „Ja“, meint Rio, weil er sich darauf eingestellt hat, dass sie noch arbeiten muss, aber nicht mehr lange. Er schlägt die Zeitschrift auf und blättert unkonzentriert in ihr herum, denn Rio beobachtet zu gerne die Leute. An dem Tresen, wo leider auch kein Stuhl mehr frei ist, sitzen ein paar Männer mit ihren Notebooks und schreiben. Rio weiß immer nicht was er davon halten soll, denn manchmal sitzt er auch so in diesem Cafe, aber auf der anderen Seite ist es schon ein komisches Bild, was sich da bietet. Junge Männer, die eigentlich die Frauen beobachten sollten, nippen an einem halbleeren Latte-Macchiato-Glas und starren auf den Monitor. Nun gut, Rio bearbeitet auch gerne seine Bilder an anderen Orten als bei sich zu Hause, zumindest ein bisschen, aber was macht man sonst in so einem Cafe? Mails schreiben und aktuelle News lesen, das ist vielleicht noch in Ordnung, aber jetzt hier ins Internet zu gehen, um dann vielleicht in einem Chat zu schreiben, dass man gerade in einem Cafe sitzt und einen Latte trinkt, wäre doch ein bisschen komisch. Vertraulicher als dieses doch sehr moderne Bild sind eher die Menschen, die sich erregt unterhalten, Männer, die Frauen verbal imponieren wollen, oder auch Frauen unter sich, die über Männer reden, denen sie imponieren wollen. Rio flüchtet sich schon wieder in seine Gedanken und stellt sich vor, wie das wohl in der Steinzeit gewesen war, ob da die Frauen auch schon darüber gequatscht haben, wie der Mann von Höhle Sieben mit einem Stoßzahn eines Säbelzahntigers beeindrucken wollte. Oder wie Männer gerade auf der Jagd ihr Leid klagten, dass noch nicht mal mehr Stoßzähne die Frauen hinterm Feuer hervor locken.
„An was denkst du gerade schon wieder?“, fragt die gleiche schöne Stimme von vorhin. Sandra hat sich schon umgezogen und ist dabei, sich eine Zigarette anzuzünden. „Ach nichts“, antwortet Rio. „Wie geht es dir?“, fragt Rio, nachdem er sich Sandra zugewandt hat. „Du weißt schon: Muss ja! Bin halt im Umzugsstress und alles und die dummen Kunden gehen mir schon wieder auf die Nerven.“ Rio muss bei dieser Antwort lächeln, da sie so belanglos ausgesprochen hat, was ihr eigentlich das Geld einbringt. „Ja“, fängt Rio an, während er noch an seiner Tasse nippt, „ich habe gestern auch wieder eine Freundin verabschiedet, die ich wohl erstmal für lange Zeit nicht mehr sehen werde. Komisches Gefühl.“ „Wie lange bist du noch hier?“, fragt Sandra und Rio antwortet spontan, denn die Frage hört er jetzt fast jeden Tag: „Noch etwa drei bis vier Wochen. Weißte, was mich da gestern nur genervt hat? Der Satz ‚Man ist ja nicht aus der Welt!’“ „Warum? Ich meine, das ist doch so, also aus der Welt bist du nicht“, erwidert sie. „Ja, aber…“, fängt Rio an und er hasst sich für diesen Anfang. Das sage ich immer und es ist so arrogant, denkt sich Rio, aber den Anfang kann er nun nicht mehr rückgängig machen, „also ich finde halt, dass das irgendwie ein Satz ist, der nicht stimmt. Wenn man die Stadt verlässt, dann sollte man immer so rechnen, als ob man aus der Welt sei. Oder anderes gesagt, vielleicht bin ich nicht aus der Welt, aber erstmal ausm Blick und bald auch aus dem Leben. Das könnte noch viel schlimmer sein als aus der Welt zu sein!“ „Ach da übertreibst du aber, Rio. Ich meine, wenn du gleich denkst, dass du aus einem Leben nach ein paar Wochen Nicht-Sehen verschwindest, dann hast du etwa ein mangelndes Selbstbewusstsein oder du vertraust der Freundin nicht, dass sie nicht so oberflächlich ist, wie du sie hier gerade fast darstellst.“ „Ähm nein, das will ich nicht…“, möchte Rio dazwischen gehen. „Ja warte mal“, redet Sandra weiter, „ich finde du solltest es so sehen, dass man den Satz immer als Hoffnung sehen sollte, jemanden wieder zu sehen. Ich glaube, dass die das nur als einen gewissen Schutz gesagt hat, um nicht so traurig zu werden!“ „Hm ja, okay, dann lass mich das anderes erklären. Also ich sehe das eher so, dass man vielleicht den Satz als Schutz nimmt, aber deswegen vielleicht zu leichtfertig und naiv wird. Ich meine, ich zieh ja nicht zum ersten Mal um und ich weiß, wie es ist, dass man zwar vielleicht nicht aus der Welt ist…“, die letzten Worte betont Rio sehr übertrieben, begleitet mit einem komischen Kopfwackeln, „…aber sich nicht wieder sieht. Vielleicht schützt es einen, aber vielleicht verbringt man somit den letzten Tag nicht so wie man ihn verbringen sollte.“ „Und wie sollte man den letzten Tag deiner Meinung nach verbringen?“, fragt Sandra, nachdem sie geduldig zugehört und einen Zug von der fast schon ganz niedergebrannten Zigarette genommen hat. „Naja, also halt so…“, Rio kommt ins Stocken, „…halt so als ob man sich nicht wieder sieht. Also so, dass man es nicht bereut, dass es der letzte Tag für eine lange Zeit war, sondern dass man es in Erinnerung behält. Als gute Erinnerung. Du kennst doch die Filme, wo die heulende, frisch gewordene Witwe heult, dass sie ihrem Mann nicht ‚Ich liebe dich’ gesagt hat, bevor er sich in sein Auto gesetzt hat, was sich dann mit einem großen Knall in einen Feuerball auflöst.“ „Ach jetzt übertreibst du aber“, reagiert Sandra mit einem Lächeln, „also JA ich verstehe dich, aber sollte man nicht eigentlich jeden Tag so verbringen, wie es am Schönsten ist? Vielleicht würden dir Abschiede nicht so schwer fallen, wenn du sie nicht mit so einem Anspruch belegen würdest.“ „Wenn die aber keinen Anspruch haben, dann ist es auch kein Abschied, weil dann es ja nichts Besonderes ist. Ich glaube, vielleicht denke ich zu viel an alte Zeiten zurück, wo es halt nicht so geklappt hat, und ich es irgendwie bereue“, Rio schaut ein bisschen traurig in seine halbleere Tasse und bewegt rührend den Löffel in ihr hin und her. „Ach Rio, nun sei mal nicht so dramatisch. An die Zeit, an die du jetzt zurückdenkst, aus denen hast du doch auch gelernt. Ich glaube, dass der Abschied gestern gut war und egal, ob ihr jetzt aus der Welt seid oder nur euch lange Zeit nicht seht oder was-auch-immer. Der Abend war doch gut. Oder?“ „Ja sehr.“ Rio blickt zustimmend zu ihr auf. „Na also, dann mach dir doch nicht solche Gedanken. Schau mal“, sie zeigt in Richtung des Tresens, „wir verkaufen jetzt auch Bier!“ Rio muss lachen: „HaHa, toll, wie du versuchst, mich durch Alkohol wieder abzulenken! Hm, wie viel kostet es denn?“ Sandra lächelt: „Keine Ahnung, aber ich hole mal zwei!“ Sie steht auf und kommt kurz darauf mit zwei Bier wieder. Der Ansturm auf den Tresen ist in der Zwischenzeit auch verebbt und das Cafe leert sich langsam. Auch der letzte Notebook-Latte-Macchiato-Trinker fährt seinen Rechner runter und verlässt das Cafe. Rio und Sandra sitzen noch eine Weile im Cafe und reden. Es ist zwar nicht ihr letzter Abend, aber sie genießen ihn in vollen Zügen.