Mal wieder ein neuer Erguss, eine neue Geschichte von Rio. Wen es nicht gefällt, kann ja gehen oder bleiben oder machen was er will. Ist ja nen freies Land.
*
Rio warf das Buch mit einem unterdrückten Schrei in die Ecke. „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. „Scheiße das“, denkt sich Rio und weiter „was bringt es wenn man die Liebe nur mit dem Zug oder Flugzeug erreicht?“. Eigentlich weiß Rio, dass es um etwas anderes, viel Fundamentaleres in dem Buch geht. Prag und Kalter Krieg und so, aber das interessiert ihn nicht. Sein Kopf hat dicht gemacht, selektiert alles nur noch für das Herz. Eben diesen Teil seines Körpers, den er jetzt gerne anstatt dem Buch an die Wand geworfen hätte.
Er steht von der Couch auf und geht zu einem Stapel von Bildern, die halb auf dem Tisch und halb auf dem Boden liegen. Seine letzten Arbeiten. Sie sind ihn gelungen, meinen die anderen. Rio möchte sie gerne zerreißen, wenn sie nicht mit einem Auftrag und somit mit einer Verantwortung verbunden wären. Es sind Fotos von Osteuropäischen Städten, genauer von Menschen in den Städten. Rio überlegt, ob er deswegen gerade Kundera ließt oder ob es ein Zufall war oder ein Schlag der der geistigen Umnachtung. Fast entschuldigend denkt er weiter, dass die geistige Umnachtung nicht auf das sehr gute Buch bezogen ist, sondern auf seine eigene Leichtsinnigkeit, dass er etwas liest, wovon er weiß, dass es ihm nicht gut tut. Ein Bild in seiner Hand lässt ihn auf einmal sitzen. Fast taumelnd liegt er wieder auf der Couch. Seine Hand schüttet unbewusst Whiskey in sein leeres Glas, vieles geht daneben, aber noch nicht mal das stört ihn, denn das Motiv fesselt ihn. Nicht aus Eitelkeit, sondern aus der Überraschung, dass er vergessen konnte so etwas zu fotografieren: Ein Pärchen sitzt in einem heruntergekommen Zug, im Hintergrund ein Fenster vor dem sich wenige Sonnenstrahlen in Regentropfen brechen, wie kleine Scheinwerfer, die jeden Fehler und jede kaputte Stelle der Scheibe beleuchten wollen. Und im Vordergrund, vor dem Paar, welches sich halb schlummernd gegenseitig in den Armen hält, unscharf, ein alter Mann, der auf die Wunden seiner Hände starrt. Für den Mann würde man nicht mal stehen bleiben, wenn er einem Geld geben würde, halb aus Unscheinbarkeit, halb aus Heruntergekommenheit.
Rio erinnert sich an den Mann, der sich selbst, Leo nannte, obwohl Rio das nicht glauben konnte, fast dachte, dass er seinen Namen nicht mehr weiß oder er sich für ihn schämt – stellvertretend für sein Leben.
„Sie war mein Ein und Alles!“ wiederholte der Mann, als er mitbekommen hatte, dass Rio sich erst jetzt nachdem er die Kopfhörer abgenommen hatte, für ihn interessierte. Eigentlich geht Rio ungern auf solche Gespräche ein, sie nerven ihn, lassen ihn an alte betrunkenen Verlierer in einer Eckkneipe denken, aber in dem Moment, von dem Motiv hingerissen, fragte Rio: „Wer?“. „Zara, meine Frau. 30 Jahre lang. Sie hatte mich gezähmt, der Wolf aus mir war vertrieben, wenn ich in ihre wunderbaren Augen schaute, sie mir eine scheuerte, als ich wieder fast das ganze Geld versoffen habe oder wenn wir nur zusammen eingeschlafen sind. Ohne das wir gefickt haben.“ Rio überraschte noch nicht mal der letzte Satz, sondern allgemein, wie seine toten Augen, einen Glanz bekamen, als er von ihr erzählte. Komisch nur, dass er „ficken“ sagt, wenn man einen liebt. Aber wie sich aus seiner später erzählten Biografie ergab, arbeite Leo 15 Jahre in einem Bergbau zusammen mit deutschen Arbeitern und dass die Sprache, die man Unter Tage lernt, keiner deutschen Lyrik a la Goethe entspricht, sollte wohl auch einem Stadttypen der Nullziger klar sein. „Und was ist passiert?“ fragte ein jetzt doch sehr interessierter Fotograf. „Sie hatte einen Liebhaber, in der Zeit in der ich im Bau für unser Geld geschuftet habe. Ich wusste es, verfluchte es, aber wollte nichts sagen, aus Angst sie zu verlieren. Ich betete, dass mir wer hilft, den Typen verschwinden zu lassen oder irgendwas.“ In Rio blitzen Gedanken, seiner letzten Beziehung auf, die auch durch einen Betrug ihr Ende fand, aber nie hätte er es schweigend hingenommen. Liebe? „Hatte Zara sie dann ganz verlassen?“ „Nein, sie blieb bei mir, warum auch immer, aber irgendwann…“ Leo stockt und schaute auf seine Hände „…ich war in der Kneipe und in unserem Dorf war auf einmal eine Lautstärke da. Sirenen, Geschrei und Rumrennende Leute. Ich verließ die Bar und folgte den Leuten. Der Weg war mir so bekannt und auf einmal stand ich vor meinem Haus. Es brannte.“ Rio hatte den Wunden an Leos Händen und vielen Erfahrungen kitschiger Filme zufolge, fast so etwas vermutet. „Ich rannte in das Scheißbrennende Haus und suchte meine Frau. Ich fand sie im Schlafzimmer, sie brannte und ich versuchte sie heraus zutragen und…“ er schaute wieder auf seine Hände „…ich weiß nicht ob es die Gase waren oder sonst was, aber es hörte sich an wie Scuza“, er wechselte ins rumänische, aber Rio verstand es: Entschuldigung!
Leo wusste nicht wofür und Rio dachte sich seinen Teil, weil er keine Analysen über trauernde Menschen aufstellen wollte. Rio dachte, dass sie sich selbst in Brand gesteckt hat, weil sie nicht mehr mit der ScheißBeziehung entweder zu Leo oder den anderen oder wegen beiden zurechtkam. „Ich habe ihr verziehen, aber nicht mehr Gott oder wen auch immer, dass er meine Frau nahm und den Arsch am Leben ließ!“ Rio schwieg, denn er verstand den Hass auf den Mann, aber nicht die Liebe zu seiner Frau. „Ja nun mach schon dein Scheißbild.“ Rio war überrascht und der Mann deutete auf seine Kamera. Sogar ein bisschen glücklich war Rio als er aufstehen konnte und den Raum verließ, aber noch das Bild, was er jetzt in den Händen hält schoss. Das Paar hat in der ganzen Zeit kaum etwas mitbekommen oder wollte es nicht mitbekommen, weil sie keine Geschichten einer unperfekten Liebe in ihrer Welt haben wollten. Lieber „Pretty Woman“ schauen oder noch besser „Ghost“. Rio verabschiedete sich von dem Mann, jetzt auch selbst sichtlich gebeutelt: „Es tut mir leid, dass sie das mitmachen mussten!“. Sie drückten ihre Hände fest zusammen und Leo ließ noch nicht los: „Das Schlimme war noch nicht mal die Erfahrung, sondern mein Herz, was zu einem schwarzen Loch wurde, was ich nicht mehr füllen konnte!“ Leo sackte in sch zusammen und Rio flüchtete, weil er gerade dachte in einen Spiegel der Zukunft geschaut zu haben. Er schaute auf seine Hände, die aber in Ordnung waren.
„Noch!“ riss sich Rio selbst aus den Erinnerungen. Sein schwarzes Loch versucht er mit dem Whiskey zu füllen. Es macht die Situation der Sehnsucht nicht besser, die Sehnsucht nach jemanden, nach etwas, nach IHR, aber das Loch in seinem Herzen verschlang ihn langsamer. Er legte sich auf die Couch und schlief ein.
Im Hintergrund singt Will Scheff: „Some nights I thirst for real blood, for real knives, for real cries. And then the flash of steel from real guns in real life really fills my mind. Then I really miss what really did exist when I held your throat so tight. And I miss the bus as it swerved from us and almost came crashing to its side.”
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